Auf das Fragezeichen in der Überschrift verzichte ich, obwohl ich meine These für gewagt halte. Die Gelegenheit für solche Visionen ist aber günstig, wenn sogar in der FAZ zumindest im Feuilleton von der Zeit “nach dem Neoliberalismus” die Rede ist (via mspro).
Während sich krisenbewusste Marxist_innen auf das Ende des Kapitalismus freuen, nistet sich bei mir der Gedanke ein, dass wir an einer gouvernementalen Zeitenwende stehen könnten. Die Finanzmarktkrise ist nicht das eine, große, singuläre Ereignis, dass diese bewirken könnte, und ich glaube auch nicht an einen schnellen Wandel, bei dem ein homogenes Altes sauber von einem ebensolchen Neuen abgelöst wird. Regierungsrationalität sind widersprüchlich und vielfältig. Trotzdem: Die Zeit des scheinbaren, aber sehr wirkmächtigen neoliberalen Konsens’ scheint abgelaufen zu sein.
Es setzt sich schneller als ich es erwartet hätte die Erkenntnis durch, dass die Deregulierungspolitik der letzten Jahre nicht so schlau gewesen ist. Ein anderes Beispiel ist die Energieversorgung. Auch hier fragen sich nicht nur Leute in Privathaushalten, ob Privatisierung wirklich ein cleverer Move war. Ich gehe davon aus, dass in den nächsten Monaten nicht nur einiges an längst überfälliger Regulierung angeleiert wird, sondern dass sich auch die Einstellung gegenüber der Kraft von Märkten und ökonomischer Rationalität sich ändern wird.
Mittelfristig könnte ein solcher Wandel nicht nur den Finanzmarkt oder die Wirtschaft betreffen, denn die Martlogik und der Homo Öconomicus spielen mittlerweile in vielen Bereichen des Lebens eine große Rolle. Neoliberale Gouvernementalität bedeutet, dass sich Begriffe, Vorstellungen und Normen aus dem Bereich der Wirtschaft auf andere Bereiche der Gesellschaft ausdehnen. Das Schaffen von Märkten gilt als innovatives Steuerungsinstrument in verschiedenen Politikfeldern, und soziale Beziehungen werden nach ökonomischen Kriterien beurteilt. Das Menschenbild verändert sich: Individuen sind “Humankapital”. Die neoliberale Regierungsrationalität regt Subjekte dazu an, das zu werden, was sie im Sinne dieser Subjektvorstellung längst sind: freie, nutzenmaximierende und verantwortliche Unternehmer_innen ihrer Selbst – auch unter widrigen Umständen.
Es scheint, als ergeben sich gerade an zentralen Stellen dieses Diskurses, der in den letzten Jahren so dicht verwoben und machtvoll war, große Risse, die geschlossen werden müssen, und dabei wird zwangsläufig etwas Neues entstehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es gelingen wird, diese Krise als Fehler von beispielsweise zu faulen Häuslebauer_innen oder durchgeknallten Manager_innen darzustellen, auch wenn welche das versuchen.
Aber was heißt das jetzt für “die Gesellschaft”? Die letzten Jahre haben trotz des Versprechen, mit dem entsprechenden Einsatz sei alles zu schaffen, nicht gerade Glück, Freiheit und Wohlstand für alle gebrachten, im Gegenteil: Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander und immer mehr Menschen sind von Prekarisierung betroffen. Ich fürchte leider, dass sich daran so bald nichts ändern wird. Schließlich scheinen wir eine massive Wirtschaftskrise vor uns zu haben, und staatliche Interventionen werden sich erst mal auf die Finanzmärkte und Banken konzentrieren, und weniger konsumseitig eingesetzt werden (in den USA gibt es allerdings solche Pläne). Ich will auch nicht sagen, dass letzteres besser wäre. Für Einschätzung dieser Art sollte man Leute fragen, die mehr Ahnung haben, und alles weitere an dieser Stelle wäre Glaskugelschreiben. Auf Schwankungen und Veränderungen nicht nur an den Börsen, sondern auch im Diskurs, können wir uns aber gefasst machen, und vielleicht verändern sich im Zuge der Ereignisse auch wieder Regierungstechnologien und Menschenbilder. Uns stehen diskursiv-politisch spannende Zeiten bevor.
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