Inhaltswarnung: Es geht um sexualisierte Gewalt.
Ich weiß nicht, wann ich das erste mal davon gehört hab, dass es so etwas wie Sex gibt. Es muss gewesen sein, bevor das Thema in der Grundschule mal dran kam. Der Stille und dem Kichern nach zu urteilen wussten die meisten von uns damals schon Bescheid. Es muss der Sachkundeunterricht in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein, als unsere Lehrerin das Thema anschnitt und ich weiß noch, dass es zuerst darum ging, dass man nicht mit fremden Männern ins Auto steigen soll. Auch nicht, wenn sie nett wirken. Auch nicht, wenn sie Süßigkeiten anbieten. Dann ging es darum, wie das mit der Schwangerschaft funktioniert. Wie das Baby im Bauch der Mutter wächst, bis es nach 9 Monaten raus kommt. Wenn wir noch Fragen hätten, könnten wir die auf Zettel schreiben; nach der Pause würden wir darauf zurück kommen. Obwohl es mir irgendwie klar war, schrieb ich auf “Wie kommt es zur Befruchtung?”, denn davon war bisher nicht die Rede. Nach der Pause las die Lehrerin meine Frage vor und fragte in die Klasse, ob jemand die Antwort wüsste. Stille. Eine kleine Ewigkeit. Dann meldete sich Benjamin und sprach es aus: “Penis in die Scheide!” Alle lachten.
Ich finde diese Aufklärungsepisode eigentlich lustig. In letzter Zeit ist mir aber etwas klar geworden: Es ging zu erst um die Gefahr, zum Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. In der einen, stereotypen Form. Und dann ging es um Reproduktion. In dieser Zusammenstellung, eng mit einander verbunden, und in dieser Reihenfolge. Um Sex ging es eigentlich nicht.
Um Lust ging es schon gar nicht, auch später nicht, als wir in der sechsten Klasse im Biologieunterricht über Verhütung und Krankheiten sprachen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Wir hätten auch darüber sprechen sollen, was passiert, wenn Menschen miteinander Sex haben. Worauf man achten muss. Nicht nur Verhütung, auch über Kommunikation. Über nein und über ja.
Die Gefahr sexualisierter Gewalt war immer präsent. Sie ist Teil der Kultur, in der ich aufgewachsen bin. Ich erinnere mich, einmal Aktzenzeichen XY gesehen zu haben. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war und warum ich diese Folge geschaut habe, denn eigentlich galt die Sendung bei meinen Eltern als etwas, das “zu gruselig” ist. Es ging um eine zweifache Vergewaltigung. Sie wurde sehr detailliert nachgestellt. Die Bilder haben sich eingebrannt.
Rape culture bedeutet für mich unter anderem auch, in einer Gesellschaft aufgewachsen zu sein, wo das Konzept Sexualität von vorne herein auch mit Gewalt und der Ausübung von Macht über Schwächere verbunden war. Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, dass Männer mir diese Gewalt antun könnten und dass ich mich davor schützen muss.
Mit 14 legte die Mutter einer Freundin uns nahe, zusammen einen Selbstverteidigungskurs für Frauen zu machen. Das war eine gute Idee und wir wussten, warum das sinnvoll ist. Mit 17 war ich mit einer Freundin im Urlaub bei Freunden ihrer Familie in der Toscana. Die Abende verbrachten wir in deren Restaurant. Einmal kam eine Gruppe von Männern rein. Unsere Gastgeberin nahm uns zur Seite und meinte, sie würde uns heute früher nach Hause bringen. Die Kerle würden oft Ärger machen und für Frauen sei es nicht gut, hier zu sein. Wir wussten, vor was wir gewarnt wurden und machten uns auf den Weg.
Das erinnert mich sehr an meine “Aufklärung” und den Umgang mit Sexualität in der Jugend. Ich habe mit 12 den ersten Selbstverteidigungskurs gemacht, von dem ich wenig bis nichts erinnere. Wie das Schweigen und die unbeholfene Aufklärung dabei “Rape Culture” manifestiert oder Basis schafft, ist die eine Sache. Eine weitere Ebene sehe ich in der Entwicklung einer weiblichen Sexualität, die angstfrei ist. Ich glaube für Mädchen ist heterosexueller Sex über Jahre besetzt mit der Furcht vor einer Schwangerschaft, mit dem Schlampenimage (“Bloß nicht zu jung”, “Es muss etwas Besonderes sein”, “Bin ich zu hässlich oder zu dick?”), dem Nichtwissen über Orgasmen. Diese Unsicherheit bzw. die Schwächung des weiblichen Standpunktes durch diese zusätzlichen Dinge, die dazu hinzukommen, sich schützen zu müssen, machen doch den Sex zu einer ziemlich traurigen Angelegenheit. Ich kenne leider keine aktuellen Lehrpläne und pädagogischen Konzepte, aber müsste nicht die Lehre von der Fortpflanzung bei der Sexualaufklärung einen sehr kleinen Teil ausmachen (weil auch recht einfach zu verstehen), und das menschliche Miteinander und all das, was die Seele schädigt oder “empowern” könnte, in den Vordergrund rücken. Wäre das nicht “aufgeklärte” Sexualiaufklärung? Ganz davon zu schweigen, dass die Aufklärung sich – glaube ich – auf den Schutz von Mädchen konzentriert, weil sie schwanger werden können, und Jungen vernachlässigt, weil sexualisierte Gewalt ein Tabu ist.
“Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, dass Männer mir diese Gewalt antun könnten und dass ich mich davor schützen muss.”
Aber das ist doch die Realität. Das ist traurig, aber trotzdem wahr. Vor diesem Hintergrund scheint es keine Alternative ohne dieses Wissen aufzuwachsen.
Danke für Deinen Beitrag!Du bist die erste, von der ich höre, dass sie auch ein XY Trauma hat, ich teile Dein Erlebnis, kann mich bis heute an die Szene erinnern, die ich damals als Kind im Fernsehen gesehen habe.
In meiner Schule las uns die Lehrerin in der 4. Klasse ein Bilderbuch vor, in dem immerhin erwähnt wurde, dass es etwas mit einem großen Glücksgefühl zu tun hätte, diese Sache mit dem Sex. Als ich 12 war, wurde im Nachbardorf ein 16jähriges Mädchen vergewaltigt und getötet. Auch das hat mich nachhaltig geprägt.
In der 8. Klasse hatten wir dann in Bio zum Glück einen sehr umfangreichen und zum Teil sehr guten Aufklärungsunterricht, hier war das Thema “Sex” aber vor allem mit den Krankheiten verbunden, die mensch sich dabei holen kann.
Traurig, traurig.
Schöner Artikel. Ich erinnere den Aufklärungsunterricht ähnlich (by the way, ist das nicht eine irgendwie abstuse Monopolisierung des Begriffs “Aufklärung”?), und ich weiß noch, dass ich dermaßen befremdet war, dass ich in der Zettelfragerunde noch einmal explizit nachhaken musste, was denn “Sex” überhaupt ist (den “geh nie mit einem Fremden mit”- und den Schwangerschaftsteil hatte ich gut verstanden und kannte beide auch schon). Danach hat mich der Gedanke unheimlich unter Druck gesetzt, selber einmal Sex haben zu “müssen”, wenn ich “groß” bin. Unsere Lehrerin war zwar so aufgeschlossen, sowohl Sex als auch Masturbation als etwas “Schönes” darzustellen, aber eben versäumt, deutlich zu machen, dass man es eben nicht machen “muss”, nur weil viele es wollen, schön und “normal” finden. Auf die Gefahr hin, die Dinge unzulässig zu verzerren, denke ich, dass rape culture schon in den Köpfen der Jugendlichen anfängt, die sich selber unter den Druck setzen, Geschlechtsverkehr haben zu müssen und wollen zu müssen und schön finden zu müssen. Dann geht die Gewalt nicht vom Gegenüber aus, sondern von mir selber, und darauf könnte ein größeres Augenmerk gelegt werden.
Im Alter von etwa 10 (genau erinnere ich mich nicht mehr) versuchten meine Cousins auf Familienfeiern mehrfach, mich zu bedrängen. Sie waren zu dritt, hielten mich fest und taten so, als wollten sie mich vergewaltigen. Sie betatschten mich nie, zogen mir nie die Klamotten aus, sexualisiert war das Ganze lediglich, weil die Szenerie an Massenvergewaltigungen erinnerte. Ich war zum Glück die Älteste, wir waren noch jung, in etwa gleich kräftig, so dass ich mich immer befreien konnte. Auch der Respekt war in “entscheidenden” Momenten da, vor der einzigen und ältesten Cousine. Das Ganze war ein Spiel, aber ein “Nein, ich will das nicht” zählte nicht. Ich hatte auch nie eingewilligt in dieses “Spiel”. Unwohl fühlte ich mich trotzdem, weil ich mich bedrängt fühlte. Weil es sich falsch anfühlte. Ich erinnere mich bis heute an diese Szenen.
Oft verbrachte ich die Wochenenden abends im heranwachsenden Alter mit meinen Eltern vor dem Fernseher. Wir schauten Filme. Im Nachhinein betrachtet gruselt es mich ein wenig, in wievielen Filmen Vergewaltigungsszenen vorkamen. Ich musste immer den Raum verlassen bei diesen Szenen. Meine Mutter erzählte mir irgendwann einmal, dass sie einen Film gern gesehen hätte, aber nicht tat, weil er gespickt mit Vergewaltigungen sei. Später, auch bei Filmabenden mit Freund_innen, hielt ich mir die Augen zu. Freundinnen fühlten sich ebenfalls sichtbar unwohl, während Typen (und auch mein Vater) keine Regung zeigten. Seit Jahren schaue ich keine Filme mehr, in denen sexualisierte Gewalt vorkommt, auch wenn diese Filme “an sich” einen interessanten und vielschichtigen Plot haben. “Der freie Wille” mit Jürgen Vogel als Täter zeigt eigentlich sehr gut auf, wie sexualisierte Gewalt in Filmen verhandelt wird: Normalisiert, voller Vergewaltigungsmythen und empathisch mit Tätern.
Als ich 15 war und auf einer von der Schule organisierten Sprachreise im südlichen England, stieg ich zu einem älteren, fremden Mann ins Auto, der mich zu meinen Freundinnen fuhr. Der Ort war sehr lang gezogen und es dauerte zu Fuß fast 45 Minuten meine Freundinnen zu besuchen. Er war sehr nett und sah mir gleich an, dass ich ortsunkundig war. Er schien mir vertrauenswürdig, also stieg ich zu. Er fuhr schnurstracks zu dem Ziel und ich bedankte mich mehrfach bei ihm, mich gefahren zu haben. Keine Anspielungen, keine Blicke, kein Habitus, der mir ein ungutes Gefühl gab. Meine Freundinnen konnten es nicht glauben und machten mir minutenlang Vorwürfe, wieso ich zu einem mir unbekannten Mann ins Auto stieg, es hätte ja sonst was passieren können. Mittlerweile bin ich sogar vorsichtig, wenn ich Mitfahrgelegenheiten buche und Typen sind Fahrer. Wenn es die Möglichkeit gibt, fahre ich immer mit dem Zug, weil mehr Menschen um mich herum sind.
Im Alter von 17 schlug mir meine beste Freundin vor, ich solle doch spätestens an ihrem Geburtstag mit Typ XY schlafen, damit ich vor meinem 18. Geburtstag noch zu denen gehöre, die ihr “erstes Mal” schon hatten. Die meisten Geschichten, die sie mir von ihren sexuellen Erfahrungen mit Typen erzählte, waren konsensfrei. Auch die anderer sehr guter Freundinnen. Orgasmen wurden als Phantasma behandelt. Es war halt “normal”. Ich fand das schon damals abstoßend und es nahm mir die Lust, mich sexuell auszuprobieren. Mittlerweile reden wir anders über diese Situationen, auch weil meine Freundinnen durch mich anders auf bestimmte Dinge blicken. Ich hatte bezüglich meiner eigenen sexuellen Erfahrungswelt schon mehrfach Situationen, die ohne Konsens abliefen, gerade auch wenn sie innerhalb einer Paarbeziehung stattfanden, weil mensch sich sicher fühlt und denkt, das muss ja wohl so. Mit Frauen und Männern.
Deine Erfahrungen bezüglich “Sexualaufklärung” in der Schule kann ich voll und ganz teilen und auch sonst hatte ich beim Lesen des Textes viele “Ja”s in meinem Kopf. Auch beim Lesen der Kommentare. Also danke für’s Mitteilen.
Von den drei „Runden“ Aufklärung, die ich in der Schule mitgemacht habe (ca. 3. Klasse, ca. 6. Klasse und ca. 10. Klasse), habe ich nur von der ersten Runde Erinnerungen an Inhalte, die mit Übergriffen zu tun haben.
Wahrscheinlich sind mir relevante Äußerungen in den späteren Runden einfach nicht in Erinnerung geblieben, denn dass es keine gab, halte ich für unwahrscheinlich.
Die Aussagen in der ersten Runde sind in meiner Erinnerung geschlechtsneutral: „Nein heißt Nein“ war die Message, die sich ausdrücklich an alle richtete. Die üblichen Warnungen, nicht mit Fremden mitzugehen, waren meine ich auch nicht speziell an die Mädchen gerichtet.
Danke, dass Du die Debatte um “Aufklärung” aufmachst. Stellt sich ja echt die Frage, was uns über Sex beigebracht wurde, dass wir kollektiv so unsägliche Konversationen darüber führen.
Ich kann mich an keinen Aufklärungsunterricht vor der 9. Klasse erinnern. Das kann aber auch an meinen Verdrängungskünsten liegen. In Bio wurde bestimmt vorher Reproduktionskram unterrichtet (so in der 6./7.?), aber das war immer so unverständlich und praxisfern wie möglich gehalten. Es ging um Zyklus, embryonale Entwicklung und Verhütung und dann hauptsächlich um AIDS. Das Schreckgespenst Vergewaltigung wurde ersetzt durch die Überfälle mit HIV-infizierten Nadeln in Diskos. m( Da kann ich mich noch gut an diverse Filmszenen erinnern. Die Idee vom Vergewaltiger im Park hat mich irgendwann mit Freundinnen zum Aikido befördert. Das hat aber keine von uns so betrieben, dass es im Ernstfall was gebracht hätte.
Zu Sexualität gab es dann eben in der 9. Klasse 2 Doppelstunden(?) mit dem Bio-Lehrer, in denen es irgendwie um Beziehungen und Dates und Anmache ging. An die hab ich aber quasi keine Erinnerung mehr, weil die Möglichkeit von was anderem als Heterobeziehungen höchstens in 5 Worten am Rande erwähnt wurde. Was es immerhin zur einzigen Erwähnung alternativer Sexualität in 13 Jahren Schulkarriere machte. I am not even kidding. (Abschluss im 21. Jhdt.) Der Lehrer war zwar hinsichtlich Geschlechterrollen relativ progressiv (muss man wohl, wenn man mit Schülerinnen anbandelt.. m(), aber mir war einfach nie klar, was das alles mit mir zu tun haben könnte.
Eigentlich wäre das mit dem Sex doch recht simpel: tut, worauf ihr Lust habt; vergewissert euch oft, dass alle Beteiligten mitmachen wollen; achtet darauf, dass ihr sicheren Sex habt. Beispiele zu allen 3 Teilen. Vielleicht ist das das Problem. Wenn die Grundlagen so einfach sind, ist es schwierig, den ganzen Überbau aus gutem monogamem Heterosex zu rechtfertigen, der in aller Köpfe schwirrt. Und andererseits ist es unmöglich ordentlich über Sex zu reden, solange alle so tun (müssen) als würden sie diesen Überbau leben (wollen). Heteronormativität, yeah. Wäre interessant, was angehende Lehrer_innen heutzutage dazu beigebracht bekommen.
Also für mich ist “Aufklärungs”unterricht weniger mit rape culture verbunden als mit dem totalen Loch, was alternative Lebensweisen angeht. Ich war mehr mit meinem völligen Unverständnis beschäftigt als mit Bedrohungsgefühlen. Zudem war Fernsehkonsum zuhause sehr reglementiert, also kein XY etc.
Danke hierfür, liebe Vorschreiber_innen:
“dass rape culture schon in den Köpfen der Jugendlichen anfängt, die sich selber unter den Druck setzen, Geschlechtsverkehr haben zu müssen und wollen zu müssen und schön finden zu müssen. Dann geht die Gewalt nicht vom Gegenüber aus, sondern von mir selber, und darauf könnte ein größeres Augenmerk gelegt werden.”
“Eigentlich wäre das mit dem Sex doch recht simpel: tut, worauf ihr Lust habt; vergewissert euch oft, dass alle Beteiligten mitmachen wollen; achtet darauf, dass ihr sicheren Sex habt. Beispiele zu allen 3 Teilen. Vielleicht ist das das Problem. Wenn die Grundlagen so einfach sind, ist es schwierig, den ganzen Überbau aus gutem monogamem Heterosex zu rechtfertigen, der in aller Köpfe schwirrt. Und andererseits ist es unmöglich ordentlich über Sex zu reden, solange alle so tun (müssen) als würden sie diesen Überbau leben (wollen).”
was mich erheblich stört ist: der mythos vom fremden mann mit dem man nicht mitgehen soll. sexualisierte gewalt in der kindheit passiert zu über 90% im sozialen nahbereich. das ist die gefahr auf die man jungs und mädels aufmerksam machen muss!