Heute morgen fand ich auf Netzpolitik.org (die übrigens gerade auch eine interessante Reihe über sich und ihre Arbeit schreiben) einen Link zu einem längeren Text beim Economist: Everything is connected. Can internet activism turn into a real political movement?
Aus meiner Forschung kann ich berichten: Netzpolitischer Aktivismus ist nicht auf dem Weg eine Bewegung zu werden, er ist es schon. Wenn man sich anschaut, wie in der Forschung eine soziale Bewegung definiert wird, ist die Frage jedenfalls mit “ja” zu beantworten:
Eine soziale Bewegung ist ein informelles Netzwerk von Individuen, Gruppen und Organisationen, das über eine kollektive Identität verfügt (Internet als Lebenswelt, Netzkultur, ein Bewusstsein über die Bewegungsgeschichte, Abgrenzung gegenüber den “Internetausdruckern”, Werte wie Informationsfreiheit, Sharing, Transparenz, Hackerethik) und sich mit den Mitteln des öffentlichen Protestes (Kampagnen, Demos usw.) für gesellschaftlichen Wandel (die Gestaltung der digitalen Gesellschaft) einsetzt.
Auf der Anti-ACTA-Demo. Foto von pierreee auf Flickr. CC BY-SA 2.0.
Es ist allerdings wichtig, zwischen Internet-Aktivismus als netzpolitischem Aktivismus und Internet-Aktivismus als Aktivismus, der Internettools nutzt (das machen heutzutage fast alle politischen Bewegungen), zu differenzieren. Die Netzbewegung ist das informelle Netzwerk, dass sich mit Netzpolitik beschäftigt. Wenn ich Leuten von meiner Forschung erzähle, sage ich das immer dazu. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass das vielen Menschen noch nicht klar ist, dass Netzpolitik ein eigenes politisches Handlungsfeld ist. Die mangelende Unterscheidung zwischen Internet als Thema und Internet als Werkzeug ist meiner Meinung nach auch der Grund dafür, dass oft so getan wird, als sei diese “Netzgemeinde” etwas ganz Rätselhaftes. Der Economist-Artikel macht diesen Fehler angenehmerweise nicht.
Netzpolitik und Netzbewegung
Unter Netzpolitik fasse ich alle politischen Konflikte darum, wie das Internet in einem gesellschaftlich wünschenswerten Sinne gestaltet, genutzt und reguliert werden soll. Dies schließt auch widerstreitende Einschätzungen über die Auswirkungen seiner Gestaltung, Regulierung und Nutzung auf andere Bereiche mit ein.
Netzpolitik beinhaltet die Internet Governance (die Arenen, Institutionen, Akteure und Prozesse der Internetregulierung) und die inhaltliche Ebene der Internet Policy (die Gesetze und Regulierungen, die hinten rauskommen). Bei manchen davon geht es ganz spezifisch um Themen, die es ohne das Internet gar nicht geben würde (z.B. Regelungen zu Domainnamen), andere sind von allgemeinerer Form. Ein Beispiel ist das Urheberrecht, dass es ja auch schon vor dem Internet gab, wo aber durch das Internet und digitale Technologien Anpassungen in die ein oder andere Richtung nötig erscheinen.
Die Netzbewegung ist eine zivilgesellschaftliche Strömung, die sich in genau diese Fragen einmischt, Themen und Forderungen in den politischen Diskurs einbringt, Akteur_innen beeinflussen will und protestiert, wenn mal wieder etwas in die falsche Richtung geht. Sie ist aber als Bewegung immer auch mehr als das, nämlich etwas kulturelles, eine Szene oder ein Konglomerat aus Szenen, die etwas miteinander zu tun haben, eine identitätsstiftende Kollektivität. Ein “wir”. Dass die Netzbewegung auch sehr stark auf netzbasierte Tools setzt, liegt auf der Hand, ist aber nicht das, was sie inhaltlich ausmacht.
Global, europäisch oder national?
Dann ist da noch die Frage, ob Bewegungen heute noch national funktionieren oder transnational wirksam sein müssen. Unter anderem darüber haben wir im September auf der Netzpolitischen Soiree der Grünen diskutiert (Mitschnitt). Der Economist-Artikel beschreibt das Phänomen als eines, das an verschiedenen Orten der Welt sichtbar wird und dadurch Momentum gewinnt. Ich würde das auch so sehen. Das Thema ist für viele Menschen auf der Welt relevant, auch wenn für die einen der Kampf gegen Zensur, für die anderen der Zugang zum Netz und für dritte die Urheberrechtsproblematik im Vordergrund steht. Es gibt ein Bewusstsein darüber, dass diese Themen etwas miteinander zu tun haben.
Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass der Alltag von vielen immer noch relativ nationalstaatlich geprägt ist. In Deutschland beschäftigen wir uns hauptsächlich mit der deutschen Netzpolitik, während wir von der österreichischer Netzpolitik schon nur am Rande etwas mitbekommen. Es gibt Verbindungspunkte zwischen den jeweiligen Netzbewegungen vor Ort, das Netzwerk der Kontakte zwischen den einzelnen Leuten und Gruppen innerhalb eines Landes ist aber dichter.
Das politische Mehrebenensystem, die Tatsache also, dass manche Fragen heute in globalen Verträgen, andere durch Kommissionsbeschlüsse in der EU, dritte wiederum in der Bundespolitik oder auf Landesebene zum Thema werden, macht es für die zivilgesellschaftlichen Kräfte erforderlich, einen Teil ihrer Aktivitäten auf die Ebenen jenseits des Nationalstaates zu beziehen. Das wiederum wirft Fragen nach der Differenzierung und Professionalisierung der eigenen Arbeit auf. Ich würde aber die Tatsache, ob es eine politische Bewegung ist oder nicht, nicht daran messen, ob alle europäischen oder gar weltweiten Akteur_innen vereint mit einer Stimme sprechen.
Wie umfasend soll’s denn sein?
Auf besagtem Podium hatten wir schließlich die Frage am Wickel, ob eine Bewegung unbedingt einen “grundlegenden gesellschaftlichen Wandel” herbeiführen wollen muss. Diese Position vertritt u.a. der Bewegungsforscher Dieter Rucht, andere machen das nicht zum Definitionsmerkmal. Ich denke, es gibt durchaus Ansätze in der Netzbewegung, bei denen sich erkennen lässt, dass es um einen grundsätzlichen Wandel gehen könnte.
Aus meiner Forschungsperspektive ist gerade die Frage interessant, wie in einer Bewegung darum gekämpft wird, was das Ziel ist und wie weitreichend es formuliert wird. Was ist das eigentliche Ziel, also um die umfassende Forderung, die mit allen anderen Forderungen verknüpft sind? Dabei ist natürlich die Frage, wie “grundsätzlich” oder “radikal” eine solche Forderung ist, also wie sehr sich die Gesellschaft grundlegend verändern würde, wenn sich die Bewegung durchsetzt, ein ganz wichtiger Aspekt. Nehmen wir das Thema Urheberrecht: Geht es hier darum, das Abmahnwesen zu beschränken und Netzsperren zu verhindern, oder geht es um einen grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Umgang mit Eigentum? Der Economist-Artikel spricht hier die Konzepte Commons und Infrastruktur an, Michael Seemann spricht von Plattformneutralität.
Den Stellenwert solcher Konzepte und die Frage, ob sie in ihrer Tragweite gesellschaftlich in die richtige Richtung gehen, was diese richtige Richtung ist und mit welchen anderen gesellschaftlichen Kämpfen das etwas zu tun hat, handeln Bewegungen die ganze Zeit über aus.
Soweit ein kleiner Werkstattbericht, hervorgekitzelt durch eine rhetorische Frage. Ich arbeite ja gerade an einer Doktorarbeit über jene Netzbewegung und forsche schließlich nicht jahrelang über etwas, das es gar nicht gibt! ;-)