Hitzechaos. Kaum ist die WM vorbei, ist schon wieder ein Ausnahmezustand in Schland. Thema Nummer Eins sind in diesem Zusammenhang die Klimaanlagen der Bahn. Es ist einer meiner pet peeves, wenn sich Leute darüber Beschweren, dass Anschlusszüge nicht warten oder dass man im ICE die Fenster nicht öffnen kann. Mir kommt es immer so vor, als würden Leute davon ausgehen, dass jeder mit gesundem Menschenverstand ganz klar durchblicken würde, wie “man” alles besser machen kann. Nur die Bahn nicht, die ist unfähig.
Es ist aber nicht erträglich bei 50°C für mehrere Stunden im Zug zu sitzen oder wegen ausfallendem Nachtzug eine Nacht bei Minusgraden am Bahnhof zu verbringen, wie es mir diesen Winter ergangen ist. Was steckt hinter der “Unfähigkeit”? Wird die Ingenieursleistung von Siemens ihrem Ruf nicht gerecht? Liegt es an Rationalisierungen und Einsparungen? Bei Zeit Online las ich heute einen Artikel von Annette Koch (dpa), der auf diese Frage eingeht.
Insider der Bahn führen die Ausfälle auf Wartungsprobleme zurück. In den Werkstätten fehle durch die Sparvorgaben der vergangenen Jahre das Personal. Zudem sind die Mitarbeiter durch außerplanmäßige Kontrollen, die vorgenommen werden müssen, um nach einem Achsenbruch die Sicherheit zu gewährleisten, extrem eingespannt. Die Bahn weist die Vorwürfe offiziell zurück, hat aber auch keine andere Erklärung für die Ausfälle der Klimaanlage.
Sehr anschaulich beschreibt eine Stelle in einem Artikel von Michael Bauchmüller gestern in der SZ den Zusammenhang von Einsparungen und ausfallender Technik bei der Berliner S-Bahn:
Aber ein komplexes System wird anfällig für Fehler auch da, wo es keiner vermutet. Beispiel S-Bahn Berlin: Die neueren Wagen verfügen über modernste Technik, die aber empfindlich auf hohe Temperaturen reagiert – weswegen es in den Führerständen inzwischen Klimaanlagen gibt. Nur hat die Bahn zwischenzeitlich auf vielen Bahnhöfen das Personal abgebaut, das die Züge abfertigte, aus Kostengründen. Die Folge: An jedem Bahnhof muss der Fahrer seine Tür öffnen, um seinen S-Bahn-Zug selbst abzufertigen – und die Temperatur im Führerhaus steigt. Nicht alle Wagen verkraften das, einige haben einstweilen hitzefrei. In den verbleibenden Zügen wird es dagegen enger.
Solche Beispiele finde ich sehr aufschlussreich, denn die Erzählung stützt meine Überlegung, dass enggetaktete, komplexe Systeme (oder vielleicht besser: Akteur-Netzwerke) wie die Bahn mit ihren vielen Zügen, Bahnhöfen, Strecken, Mitarbeiter_innen, Klimaanlagen, Fahrgästen und der ganzen Kommunikation zwischen diesen einzelnen Elementen nicht auf der effizienzoptimierten Basis des Postfordismus laufen können. Sie brauchen Redundanz, müssen gut verteilt sein. Denn ohne ein gewisses Maß an überflüssiger Kapazitäten gibt es Kettenreaktionen, wenn an einem oder mehreren Orten einzelne oder mehrere Teile ausfallen. Dann wird es heiß oder Züge fallen aus, und alle meckern wieder über die Unfähigkeit des Gesamtapparats Bahn, blenden dabei aber die politische Frage danach aus, welche und wie viele Akteure es braucht, damit das Netzwerk funktioniert.
ich würde siemens mit ie schreiben und las mit s.
aber hauptsache ZEIT lesen.
Das ist ja lustig – wir haben das gestern in Bezug auf Tills Artikel dazu (http://blog.till-westermayer.de/index.php/2010/07/12/homoopathie-und-die-deutsche-bahn-im-sommerloch/#comments) auch diskutiert. Leider driftete die Debatte dort dann – weil Till das Gesundheitssystem (in Bezug auf die Homöopathie Diskussion) mit der Bahn vergleichen hat, um die Störanfälligkeit zu rigider sozio-technischer Systeme zu beschreiben – in eine politische Debatte über Heilmethoden ab.
Richtig interessant wird es aber dann, wenn man anfängt zu untersuchen, WELCHE doppelten Böden, WELCHE Überflüsse und WELCHE Unentschiedenheiten Akteurs-Netzwerke aufbauen und welche in Versuchen der Rigidisierung bekämpft werden.
Nicely put :-)
Ich empfinde es als wesentliches Merkmal menschlicher Selsbtgefälligkeit, davon auszugehen, immer einen Ausschnitt zu finden, der so gewählt ist, dass man dort vom regeln absehen und der Illusion verfällt, tatsächlich steuern zu können. Das ist doch auch für unsere ingenieus trainierten Köpfe viel einfacher zu handhaben. Es wäre ungemein niederträchtig, um diese Sache gar zu wissen, sie aber dennoch positiv zu vermarkten und nur so zu tun. Das will man ja noch weniger unterstellen. Bestimmt.
Dumm ist nur, dass man bei der Diskussion über das Akteur-Netzwerk selbst nicht in die Falle tappen darf, Zustände zu beschreiben, die von “funktionieren” oder “nicht funktionieren” sprechen, und in derselben ingenieursmäßigen Faktizität zu verharren.
Ich frage mich also ganz konstruktivistisch: Wie müssen wir darüber sprechen oder was müssen wir tun, dass für die Illusion wirtschaftlicher Optimierung künftig keine Körperverletzungen mehr billigend in Kauf genommen werden, nur damit man an seiner mechanistischen Buchreligion festhalten darf? Von einem darüber hinausgehenden, eingeschwungenen Zustand der uns gemeinsam in eine verantwortliche Zukunft trägt scheinen wir ja weit entfernt, oder zumindest scheint der “Kundenkomfort” aus der Beziehung gestrichen zu sein.
Ich würde es nicht überflüssige Kapazitäten nennen. Selbst wenn sie sich in der Reserve befinden erfüllen sie ja eine Aufgabe – eben die der Reserve. :-)
Dann nutze ich die Chance, hier mal zu fragen, ob jemand neuere empfehlenswerte Literatur zu einer praxistheoretischen / sozio-technisch-konstruktivistischen / ANTigen Annäherung an GTS/Infrastrukturen kennt.
Was ist denn GTS?
Ah, sorry: “große technische System”
Mayntz, Renate / Hughes, Thomas P. (eds.) (1988): The Development of Large Technical Systems. Frankfurt/Main: Campus.
“‘Große technische Systeme’ oder: was ist groß und was ist klein?”, in: Joerges, Bernward (1996): Technik – Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Aber das sind eben alles klassisch-techniksoziologische Ansätze.
Es geht ja nicht nur um das Leid der Kunden und Kundinnen. Die Angestellten ertragen die Hitze ja auch und kriegen dazu auch noch den ganzen Hass der Zufahrenden ab. Und dann ermittelt auch noch die Staatsanwaltschaft gegen den Zugchef (http://www.tagesschau.de/inland/bahn1206.html). Das ist die Härte, oder?
GTS sind nicht so mein Metier, aber vielleicht lesen das ja Leute, die noch Tipps für Till haben :)
@Frank: Lustig, für mich hat Überfluss gar nicht mehr automatisch die Bedeutung des Verzichtbaren (Ist überflüssig, kann man getrost streichen). Überfluss ist wichtig, allein schon, weil das Mindestmaß, das Notwendige und Ausreichende sich so schwer allgemein bestimmen lässt und immer ein bisschen offen bleiben muss, zum Beispiel auch beim finanziellen Grundbedarf von Menschen.