“Die Datensätze werden dann auf dem grauen Markt meistbietend verkauft, nicht selten an Kriminelle, die sie dann für den Identitätsdiebstahl mißbrauchen können”. Immer mehr Menschen müssen Nachts raus. Man muss keine Wissenschaftlerin sein, um sich von solchen Sätzen ein bisschen manipuliert zu fühlen. Aber gut, “Die Datenfresser. Wie Internetfirmen und Staaten sich unsere persönlichen Daten einverleiben und wie wir die Kontrolle darüber zurückerlangen” (2011, Frankfurt/Main) ist möglichst allgemeinverständlich geschrieben. Um ihre Zielgruppe (ich vermute, es geht um die $Mutter) zu erreichen, scheint es für Constanze Kurz und Frank Rieger strategisch wichtig zu sein, auf Belege für die von ihnen beschriebenen Entwicklung und Szenarieren weitestgehend zu verzichten.
Es ist leicht, aus einer sich informiert fühlenden Position über diesen Beitrag zur Privatsphären-Debatte zu schmunzeln. Aber immerhin: Sie konkretisieren, was sie mit der Verdatung von Individuum und Gesellschaft meinen und zeigen einige (mehr oder weniger) bedrohliche Konsequenzen auf. Dabei gehen sie über das übliche Halt deine Daten zusammen! hinaus. Unterm Strich lautet der Appel der Sachkapitel über Soziale Netzwerke, Scoring oder Biometrie und die beiden fiktionalen Schreckgeschichten über ein datensammelwütiges Startup und Robert, einen Anwalt im Jahre 2025: Bürger, lasst euch nicht entmündigen! Reflektiert, was ihr tut, ob die Preisgabe von Daten jeweils nötig ist, wem ihr vertraut. “Souveränität über die eigenen Daten bedeutet daher, Handlungsspielräume zu erhalten, nicht heute für alle Zukunft zu entscheiden, was wer wissen soll.” (S. 202) Pseudonyme, falsche Daten, Datensparsamkeit (nicht Askese) sind Handlungsvorschläge gegen den Kontrollverlust. Eines der zentralen Argumentationsmuster von Kurz/Rieger lautet: Daten haben einen Wert. Cui bono und wer ist der Dumme?
Es mag ihnen jedoch nicht so recht gelingen, meine Angst um die Privatsphäre anzufeuern. Vielleicht habe ich mich ja schon angesteckt mit diesem Post-Privacy-Virus? “Der soziale Umgang mit Menschen, die keine Privatsphäre-Manieren haben oder gar offensiv Post-Privacy-Ideologien vertreten, kann im Ernstfall ähnlich riskant sein wie intimer Umgang mit habituellen Safe-Sex-Verweigerern.” (S. 205) Im Konflikt zwischen Datenschutz und Post-Privacy werden die diskursiven “Gegner” radikal pathologisiert, und zugleich wird die Privatsphäre sexualisiert und in einem heteronormativen Rahmen aufgespannt. Gefährlich wird’s wenn rauskommt, dass Du schwul, queer und pervers bist (vor allem in der Provinz!). Die diskursive Funktion von Queerness in aktuellen Datenschutz, aber auch in den Post-Privacy Diskursen (Coming Out als verallgemeinerte Methode der Emanzipation) erfordert eine eigene Analyse.
Wenn Post-Privacy doch so ein “realitätsfernes Gedankenexperiment” (S. 252) sein soll, stellt sich die Frage, warum post-private Technologien des Selbst für viele scheinbar unbedrohlich, spannend, gar erfolgsversprechend sind (und auch wenn Machtverhältnisse auch hier eine Rolle spielen bekomme ich auf Twitter bei weitem nicht nur Einblicke in die Lebensrealitäten weißer, heterosexueller Mittelstandsmänner). Kurz und Rieger schreiben, dass Privatsphäre “kein einfach zu verstehendes Konzept ist, das sich in simplen Schlagworten verkaufen läßt” (S. 204). Es bietet “Schutz vor der Macht anderer – sei es dem Staat oder dem Chef. Es schützt vor unangemessener Belästigung, aber auch vor der Asymmetrie von Machtverhältnissen. Gleichzeitig bewahrt es den gegenseitigen Respekt, die Individualität, letztlich die Menschenwürde.” (S. 205) Und schließlich, eine Aussage des Juristen Edward Boustein von 1964(!) zitierend (ohne Quellenangabe): “Es ist der Schutz der Privatsphäre, der den Menschen vor dem Druck des Konformismus bewahrt.” (S. 271)
Die Antwort, die “Datenfresser” auf die Frage, woher die Lust an der Offenheit/Öffentlichkeit kommt, gibt, ist einfach: Sie ist Resultat von hauptsächlich privatwirtschaftlicher Manipulation, die geschickt genug waren, ihre Begehrlichkeiten in die Gestaltung von Technologien (location based services, soziale Netzwerke, die cloud) einzuschreiben. Gesellschaftsanalytisch muss an dieser Stelle jedoch auf neoliberal-gouvernementale Machtformationen verwiesen werden: Es geht in unserer heutigen Zeit nicht mehr so sehr um den Konformismus der Masse. Normativität hat sich verschoben, subjektive Differenz ist für viele zum kulturellen Kapital geworden. Unter diesem Licht betrachtet werden post-private Selbsttechnologien verstehbar, aber auch kritisierbar. Doch diesen analytischen Schritt zu machen steht noch aus.